Stell dir vor, du bist auf der Weihnachtsfeier des Betriebs, in dem du kürzlich deine Ausbildung angefangen hast. Die Mitarbeitenden stehen herum, trinken Sekt und unterhalten sich über die anstehenden Feiertage, ihre Familien und die Arbeit im Betrieb. Deine Chefin stellt dich einer Gruppe von Leuten aus einem anderen Team vor und sagt: „Das ist unser*e neue*r Auszubildende*r. Er*Sie ist erst seit etwas mehr als einem Jahr in Deutschland, kommt aber hier schon super klar.“ Die anderen schauen dich an und du lächelst freundlich zurück. Eine Kollegin sagt: „Ach, dann bist du ja ein Flüchtling. Wir freuen uns, dass du hier eine Ausbildung machst!“ Du entgegnest, dass du eigentlich nicht Flüchtling genannt werden möchtest, weil es für dich negativ konnotiert ist. Abgesehen von den damit verbundenen Vorurteilen, die in Medien und Gesellschaft weit verbreitet sind, klingt das Wort so, als seist du immer noch auf der Flucht, obwohl du ja längst in Deutschland angekommen bist. Die Kollegin versteht dich nicht so richtig: „Aber du bist doch Flüchtling! Ehrlich, ich meine es nicht negativ, aber ich sehe kein Problem in dem Wort, deshalb benutze ich es eben.“ Ein anderer Kollege erzählt, dass er einen Geflüchteten aus Syrien kennt und dass der sich auch schon richtig gut integriert hat. Du würdest gerne mit den Leuten diskutieren und erklären, dass du diesen anderen, der vielleicht nicht einmal auf dem gleichen Kontinent wie du aufgewachsen ist, nicht kennst und eure einzige Gemeinsamkeit wahrscheinlich ist, dass ihr in Deutschland Asyl beantragt habt. Und dass es eine Frage von Respekt ist, Menschen nicht mit Begriffen zu benennen, die sie als Beleidigung empfinden. Vielleicht hast du die anderen aber auch nicht richtig verstanden, sie haben ja auch ziemlich schnell und auf bayerisch geredet…
Drei Jahre später. Du hast deine Ausbildung inzwischen abgeschlossen und arbeitest in einem anderen Betrieb in einer größeren Stadt. An diesem Tag bist du mit deine*r weißen deutschen Partner*in auf einer Familienfeier. Ein Onkel, den du das erste Mal kennenlernst, spricht dich an und ist sehr interessiert an deiner Herkunft und wie lange du schon in Deutschland bist. Er scheint beweisen zu wollen, wie viel er über das Land und die Leute dort weiß, ohne wirklich an dir als Person interessiert zu sein. Als dein*e Partner*in dazukommt fragt er, ob er*sie noch ihr Ehrenamt mit „den Geflüchteten“ macht. Seitenblick zu dir. Du weißt, dass auch du mit dem Begriff gemeint bist und dass hier schon wieder eine Grenze gezogen wurde. Wir und die anderen. Es kann noch ziemlich lange dauern, bis du wirklich dazugehörst. Die meisten Leute in deinem Umfeld sprechen inzwischen von Geflüchteten statt von Flüchtlingen, was du zumindest nicht als Schimpfwort verstehst. Trotzdem ist es diese eine Eigenschaft, die für die Deutschen wichtig zu sein scheint. Du fragst dich, warum du noch nie als Ausgebildete*r vorgestellt wurdest, das ist ja auch ein Teil deiner Biographie. Nun ja, Ausbildungen sind ja vielfältig, genau wie die Leute, die sie machen, deshalb kann man ja nicht alle in einen Topf werfen oder? Außerdem ist deine Ausbildung ja jetzt abgeschlossen, dein Status hat sich also verändert. Dass deine Flucht schon viel länger her ist, spielt dabei scheinbar keine Rolle.
Noch zwei Jahre später. Seit kurzem bist du im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft. Du konntest die Einbürgerung dank deiner gelungenen Integration beantragen, also weil du einen Beruf und die Sprache gelernt hast, in Deutschland arbeitest und dich in die Gesellschaft eingefunden hast. Die Erwartungen, mit denen du immer wieder von Deutschen konfrontiert wurdest, hast du zumindest insofern erfüllt, als dass du etwas zur deutschen Wirtschaft beiträgst, im Alltag nicht unangenehm auffällst und viele Kontakte geknüpft hast. Du hast dies allerdings nicht für sie getan. Im Prinzip, denkst du, müssen sich doch alle ständig in neue Aufgaben und Bereiche integrieren, um in ihrem Leben vorwärts zu kommen. Bei deiner US-amerikanische Nachbarin beschwert sich übrigens fast niemand, dass sie nach acht Jahren in Deutschland immer noch ungern auf Deutsch kommuniziert und dass ihre Kinder Zuhause nur Englisch sprechen. Im Gegenteil, sie werden von anderen dafür bewundert und beneidet, dass sie mehrsprachig aufwachsen. Wäre es deine Muttersprache, ist das natürlich ein anderes Thema… Klar, Englisch ist ja auch Weltsprache und die meisten Leute freuen sich, wenn sie es mit einer Muttersprachlerin üben können.
Du wirst zu einer Podiumsdiskussion zur Lebenssituation in Gemeinschaftsunterkünften eingeladen, weil du selbst schon einmal in einer solchen Einrichtung gewohnt hast und die Situation von Bekannten auch jetzt noch mitbekommst. Mit dir in der Runde sind zusätzlich eine deutsche sogenannte Expertin für Flucht und Asyl, ein deutscher Arzt und ein ehrenamtlich engagierter Deutscher. Du weißt genau, was in diesem Gespräch deine Aufgabe sein wird, du sollst „die Geflüchteten“ vertreten. Du sollst Fragen zu „deiner“ Gruppe beantworten und „deren“ Perspektive vertreten. Nicht nur in dieser Runde, sondern eigentlich immer, wenn du als Geflüchtete*r benannt wirst, obwohl du ja mit den meisten „Geflüchteten“ nicht mehr gemeinsam hast, als die Kategorie, die von eurem Umfeld konstruiert und in die ihr eingeordnet werdet, damit klar ist, dass ihr immer noch „anders“ seid. Dass wir alle Menschen mit vielfältigen Eigenschaften, Geschichten, Träumen sind, Aspekten, die uns verbinden oder unterscheiden, wird dabei oft vergessen.
Ist es denn notwendig, Menschen zu benennen und in Schubladen einzuordnen? Vielleicht sollten wir anfangen, Personen zu sehen, nicht Vertreter*innen von angeblichen Gruppen. Vielleicht sollten wir Menschen die Freiheit lassen, selbst zu entscheiden mit was oder wem sie sich identifizieren. Sehr wahrscheinlich könnten wir dabei noch sehr viel über uns selbst und einander lernen.
Von Antonia Vollmer