Online-Podiumsdiskussion mit M. Käßmann, E. Marquardt, U. Al Shahmani und W. Lesch
Nach der erfolgreich durchgeführten Online-Veranstaltung „Aus den Augen aus dem Sinn – Ethik und Moral versus Realpolitik in der Flüchtlingsfrage?“ am 13. Januar 2021 wendet sich der Blick nun in die idealpolitische Richtung: Am 23. Juni 2021 um 19 Uhr veranstalteten Junges Europa e.V. in Kooperation mit CampusAsyl e.V. die Online-Podiumsdiskussion „Ethik und Moral in der Flüchtlingsfrage – Wie idealpolitisch ist die Europäische Migrationspolitik?“.
Bildete bei der vorangegangenen Veranstaltung noch die Realpolitik den Hauptfokus des Panels, nahmen wir nun mit unseren Diskutant*innen Erik Marquardt, Margot Käßmann, Usama Al Shahmani und Prof. Dr. Walter Lesch dieses Mal die idealpolitische Perspektive europäischer Migrationspolitik in den Blick. Abseits der politischen und rechtlichen Regelungen der EU erweiterten wir den Rahmen der Diskussion auch auf zivilgesellschaftliche Akteure und deren Engagement und ließen uns von unseren Diskutant*innen von den Moderator*innen Emily Holmes (SeaEye | CampusAsyl e.V.) und Paula Boden (Junges Europa e.V.) entlang der Frage, „ob sich die EU-Politik trotz realer Schranken an idealen und moralischen Vorstellungen ausrichten lässt“ durch die Diskussion führen.
In der ersten Diskussionsrunde ging es zunächst um eine Bestandsaufnahme der derzeitigen Umstände. Hier stimmten die Diskutant*innen in ihrer Sichtweise überein, dass es heute keine, mit den von der EU propagierten Werten und Normen, auch nur im geringsten übereinstimmende Migrationspolitik gebe. So seien nach Frau Käßmann von christlicher Seite genügend Anlagen vorhanden, eine Wertebasis für eine humane Migrationspolitik zu schaffen, doch werde dies nicht unternommen. Die derzeitige Lage bezeichnete die evangelische Theologin daraufhin als „erbärmlich“. Die Kritik erweiternd konstatierte Herr Marquardt darüber hinaus, dass die auf EU-Ebene beschlossenen Regeln und Gesetze von den Mitgliedsländern, hier im speziellen von Griechenland, konsequent und vor aller Augen umgangen würden. Dieses Erodieren europäischen Rechts schlage sich nach Walter Lesch auch in der Wahrnehmung des Projekts EU nieder.
Von der bei den älteren Generationen verbreiteten Ansicht – die EU als Friedensprojekt auf dem europäischen Kontinent – verschiebe sich nun diese positive Sichtweise immer mehr in Richtung einer Unzufriedenheit und Resignation über das Projekt EU bei der jüngeren Generation. Herr Marquardt, der hier auch aus Erfahrungen seiner politischen Arbeit im EU-Parlament spricht, stimmte mit dem von Walter Lesch vorgebrachten Befund überein, dass der Rechtspopulismus in Europa den Diskurs über die Migrationspolitik selbst stark überschatte. Statt also eine konstruktive Diskussion über das Wie zu führen, werde der gesellschaftliche Diskurs von Angst und Unsicherheit bestimmt, was Frau Käßmann zu dem Apell brachte: „Ich will positive Bilder sehen!“
Auch die Rolle der Religionen und deren Gemeinschaften betitelte Frau Käßmann als sehr wichtig. Abseits der den Religionen innenwohnenden moralischen Richtschnur, die eigentlich eine humane Migrationspolitik fördern sollte, bildeten die religiösen Institutionen nicht nur eine meinungsbildende Instanz, sondern auch, mit Verweis auf das Kirchenasyl, eine letzte Rettung für Geflüchtete, denen die Abschiebung drohe.
Die Auswirkungen einer solchen vom rechten Rand dominierten Debatte spiegele sich auch in der Gesellschaft wieder, was auch Herr Al Shahmani in seinem Roman ‚In der Ferne sprechen die Bäume Arabisch‘ mit der Metapher einer Mauer, die Migrant*innen von dem Rest der Bevölkerung trenne, impliziert. Die Fenster, die eine solche Mauer durchbrechen, sollten eigentlich durch eine Integrationspolitik und die Gesellschaft zusammen mit den Migrant*innen geöffnet werden, doch meist, so Al Shahmani, seien Migrant*innen auf sich allein gestellt. Auch hier sehe man den Treiber der gesellschaftlichen und politischen Diskussion, als Herr Al Shahmani konstatierte, dass die „Sprache der Gesetze mit Angst und Abstand geschrieben wurde.“ Die Mammutaufgabe der einseitigen Integration führe dazu, dass Migrant*innen in die Kriminalität rutschten und so das vorherrschende, von Angst geprägte Bild innerhalb der Gesellschaft bestätigen. Somit entstehe ein Teufelskreis, der von Ausgrenzung zu Rassismus führe und von Rassismus wiederum zu Ausgrenzung. Dem stimmte auch Herr Lesch zu – Er betonte an dieser Stelle die wichtige Aufgabe der Zivilgesellschaft, deren Institutionen, Universitäten sowie der Literatur, die doch viel deutlich positivere Bilder schaffen könnten.
Im Weiteren berichtete Herr Marquardt von seiner Arbeit im EU-Parlament und den Schwierigkeiten, denen er entgegenstehe. So verschwimmen durch die aufgeheizte Diskussion in der EU die Unterschiede in der Klassifizierung von Kriegs-, Klima-, Wirtschaftsflüchtenden und anderen Treibern hinter einer Migration. Dieser Umstand führe dazu, dass die EU immer noch kein geltendes Migrations- oder Einwanderungsgesetz vorweisen könne. Dem stimmten alle Diskutant*innen zu und verwiesen im Nachgang auch auf die fehlenden Perspektiven und gesetzlichen Definitionen der Integration. Wenn man nicht wisse, wann man integriert sei, oder was man hierfür tun müsse, fehle nicht nur eine Richtschnur, sondern auch eine Klassifizierung von Erfolgen, so das Urteil des Podiums.
Wie also könne man diese festgefahrene Debatte innerhalb der EU und ihren Mitgliedsländern beheben? Herr Lesch empfahl hier mit Verweis auf die Aufgaben der Ethikkommission im Laufe der Covid-19 Pandemie, die Ethik als Werkzeugkasten an den Diskurs über die Migrationspolitik einzusetzen.
Am Ende der Veranstaltung wurde das Plenum von den Moderatorinnen Paula Boden und Emily Holmes für die Fragen der Zuschauer*innen geöffnet. Die Fragenden teilten die Hoffnung auf eine Verbesserung der derzeitigen Umstände. Sie fragten nach der zukünftigen Ausgestaltung der Migrationspolitik. Hier wurde im Speziellen auf die religiöse Komponente, aber auch auf die Adressierung von Ängsten eingegangen. Im Diskurs wurde daran gearbeitet, wie eine Migrationspolitik frei von Ängsten und Sorgen auf der einen und auf der anderen Seite eine sichere, humane und menschenwürdige Migration sichergestellt werden könne. Aus dem Publikum kam die etwas kontroverse Frage auf, ob denn der Schutz der eigenen Identität und somit die Abweisung fliehender Menschen auch ein Wert sei. Diese Fragestellung wurde von Herrn Marquardt kurz damit kommentiert, dass jeder Mensch so behandelt werden sollte, wie man auch selbst behandelt werden möchte.
Auf die abschließende Frage, was konkret den Panelist*innen Kraft und Hoffnung gebe, trotz all der widrigen Umstände und Menschenrechtsverletzungen, immer weiter gegen Windmühlen anzutreten, antworteten alle vier Impulsgeber*innen, dass sie nie die Hoffnung in die Vision des Projekts Europäische Union verloren haben – und das auch in Zukunft nicht erwarten. Ein stärkendes Signal und ein von Hoffnung und Engagement getragenes letztes Plädoyer dieser Podiumsdiskussion.
Wir – Junges Europa e.V. und CampusAsyl e.V. – bedanken uns bei Frau Käßmann, Herr Marquardt, Herr Al Shahmani und Herr Lesch sowie bei unseren Moderatorinnen für die Teilnahme und große Mühe. Auch möchten wir den zahlreichen Zuhörer*innen für das Interesse und die rege Teilnahme an der Diskussion danken. Wir freuen uns, Sie und Euch auch in Zukunft weiter bei anregenden Diskussionen begrüßen zu dürfen.
Von: Manuel Steudle und Anna Metrina